Gesammelte Werke - Marcel Proust by Marcel Proust

Gesammelte Werke - Marcel Proust by Marcel Proust

Autor:Marcel Proust [Proust, Marcel]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783736402607
Herausgeber: andhof
veröffentlicht: 2015-11-25T16:00:00+00:00


Als ich zu Bett lag, hielten mich die Geräusche der Straße, die an diesem Festabend länger dauerten als gewöhnlich, wach. Ich dachte an alle die Leute, die ihre Nacht mit Genüssen beendeten, an den Liebhaber oder gar den Trupp von Lüstlingen, welche die Berma nach der Vorstellung, die ich für den Abend angekündigt gesehen hatte, abholen mochten. Ich konnte mir, um die Erregung zu beschwichtigen, die dieses Bild in schlafloser Nacht in mir wachrief, nicht einmal sagen, daß die Berma vielleicht gar nicht an Liebe denke, da doch die Verse, die sie deklamierte und lange studiert hatte, jeden Augenblick sie daran erinnerten, daß Liebe etwas Köstliches ist; und das wußte sie nur zu gut, denn sie offenbarte die wohlbekannten Verwirrungen dieser Leidenschaft, begabte sie mit neuer Heftigkeit und ungeahnter Süße vor Zuschauern, die von Erstaunen hingerissen waren über das, was doch jeder von ihnen selbst schon empfunden hatte. Ich zündete meine gelöschte Kerze wieder an, um noch einmal das Gesicht der Berma zu betrachten. Bei dem Gedanken, daß es gewiß gerade jetzt berührt wurde von Männern, die ich nicht hindern konnte, übermenschliche, undurchschaubare Freuden ihr zu geben und von ihr zu empfangen, empfand ich einen Schauer, der mehr qualvoll als wollüstig war, ein Heimweh, das noch bedrückender wurde durch den Klang eines Waldhorns, wie man ihn in der Nacht von Mittfasten und auch an anderen Festen hören kann, wenn er ohne Schönheit aus einer Schenke kommt und darum noch trauriger ist als ›Abends aus des Waldes Grunde‹. In diesem Augenblick wäre ein Wort von Gilberte vielleicht nicht das gewesen, was ich brauchte. Die Wege unserer Begierden durchkreuzen einander, und in der Verworrenheit des Daseins läßt sich selten ein Glück genau auf die Begierde nieder, die nach ihm gerufen hat.

Ich fuhr fort, an schönen Tagen in die Champs-Élysées zu gehen durch Straßen, deren elegante rosa Häuser (damals waren gerade die Ausstellungen von Aquarellmalern Mode) in bewegter leichter Luft badeten. Ich müßte lügen, wenn ich sagen wollte, daß mir in dieser Zeit die von Gabriel erbauten Palais schöner zu sein oder auch nur einer andern Epoche anzugehören schienen als die benachbarten Gebäude. Stilvoller fand ich, wenn nicht das Palais de l'Industrie, so doch den Trocadéro, und ich hätte ihn auch für altertümlicher gehalten. Aber noch hüllte, versunken in unruhigen Schlaf, meine Jünglingszeit das ganze Quartier, durch das sie träumend ging, in ein und denselben Traum, und nie wäre mir in den Sinn gekommen, daß in der Rue royale es ein Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert geben könne, wie mich auch sehr verwundert hätte zu erfahren, daß die Porte Saint-Martin und die Porte Saint-Denis, diese Meisterwerke aus der Zeit Ludwigs XIV., nicht Zeitgenossen der neuesten Baulichkeiten ihrer schmutzigen Bezirke seien. Ein einziges Mal hielt mich der Anblick des einen der Palais von Gabriel lange fest: die Nacht war hereingebrochen, und der Mondschein hatte die Säulen entkörpert, sie sahen wie aus Pappe geschnitten aus, erinnerten mich an Kulissen der Operette Orpheus in der Unterwelt und machten mir zum erstenmal den Eindruck des Schönen.

Noch immer kam Gilberte nicht wieder in die Champs-Élysées.



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